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Kapitel 3

MÖGLICH WELTEN – Zur Verschränkung von Ontologie, Quantenphysik und Gottesbegriff

1. Modallogik und Gödels ontologischer Gottesbeweis

Gödels ontologischer Beweis operiert im Rahmen der Modallogik S5, die von möglichen Welten als systematischem Rahmen ausgeht. Der Kern der Argumentation:

  • Ein göttliches Wesen ist definiert als ein Wesen, das alle positiven Eigenschaften besitzt.
  • Notwendige Existenz ist selbst eine positive Eigenschaft.
  • Wenn die Möglichkeit eines solchen Wesens logisch konsistent ist, folgt aus der Struktur der S5-Modallogik, dass es in allen möglichen Welten existiert.

Diese Beweisstruktur wurde vielfach analysiert (z. B. Sobel, Anderson, Hájek). Wichtig ist: Die mögliche Welt ist hier kein physikalischer Ort, sondern eine logisch mögliche Struktur, in der bestimmte Prädikate wahr sind. Gödels Argument ist daher formal, nicht empirisch – und zugleich radikal: Wenn nur eine Welt diese Möglichkeit realisiert, muss jede sie realisieren. Damit wird Gott zu einem transweltlichen Seinsprinzip.

Quellen:

  • G. Gödel: Ontological Proof, in: Sobel, Jordan Howard: Logic and Theism, 2004.
  • Anderson, C. Anthony: Some Emendations of Gödel’s Ontological Proof, 1990.

2. Quantenmechanik und das Messproblem

Das Messproblem in der Quantenphysik beschreibt die Tatsache, dass Quantenobjekte vor der Messung in einem Zustand der Superposition existieren – d. h., sie befinden sich gleichzeitig in mehreren Zuständen. Erst durch den Messakt kollabiert die Wellenfunktion und „entscheidet“ sich für einen konkreten Zustand.

Hier entsteht ein erkenntnistheoretischer Bruch zur klassischen Physik: Die Realität ist nicht einfach da, sondern wird durch Messung hervorgebracht. Damit verschwimmt die Trennung zwischen Subjekt und Objekt.

Relevante Positionen:

  • Werner Heisenberg spricht vom „Beitrag des Beobachters zur Realität“.
  • John Wheeler formulierte: “No phenomenon is a phenomenon until it is an observed phenomenon.”
  • In neueren Interpretationen (QBism, relational quantum mechanics) wird die Rolle des Beobachters systematisch verankert: Messung ist Teilhabe.

Quellen:

  • Heisenberg, W.: Physik und Philosophie, 1958.
  • Wheeler, J. A.: Law without Law, in: Quantum Theory and Measurement, 1983.
  • Rovelli, C.: Relational Quantum Mechanics, 1996.

3. Anthropologische Übertragung: Kognition als kategoriale Messung

Wenn wir den quantenphysikalischen Messakt analog auf menschliches Erkennen übertragen, ergibt sich ein faszinierender anthropologischer Rückschluss:

  • Auch wir messen ständig die Welt – mit unseren Kategorien, Begriffen, Gefühlen, Interpretationen.
  • Diese Messungen erzeugen eine stabilisierte Wirklichkeit, die nur eine von vielen möglichen Welten ist.
  • Phänomenologisch gesprochen: Wahrnehmung ist ein intentionaler Akt, der Sinn konstituiert. Heidegger nannte dies Weltentwurf.

Jede Sekunde unseres Denkens, Bewertens, Einordnens ist ein kategorialer Kollapsprozess, analog zur Wellenfunktion. Wir „lokalisieren“ Bedeutung – und damit eine Welt. Doch: Diese Welt ist nicht notwendig „die“ Welt. Es ist die Welt, die unsere semantische und leiblich-kulturelle Struktur zulässt.

Quellen:

  • Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1913.
  • Heidegger, M.: Sein und Zeit, 1927.
  • Varela, F. et al.: The Embodied Mind, 1991.

4. Theologische Implikation: Möglichkeitsräume des Göttlichen

Wenn unsere Realität eine Resultante kategorialer Messprozesse ist, dann ist auch das Göttliche ein Möglichkeitsraum, der nur innerhalb bestimmter kognitiver und existenzieller Zugänge zugänglich wird.

  • Gott kann uns nur in solchen Welten begegnen, die wir überhaupt entwerfen können.
  • Die Möglichkeit Gottes wird damit zur Möglichkeit unserer Welterfahrung.
  • „Glauben“ wäre dann der Versuch, die kategorialen Schranken zu weiten – ein Akt der Erweiterung unserer möglichen Welten.

Dies korrespondiert mit Gödels Idee: Die Möglichkeit Gottes muss nur in einer möglichen Welt gelten – aber was, wenn wir es sind, die diese Welt hervorbringen müssen? Dann wird das ontologische Argument nicht logisch zwingend, sondern existenziell herausfordernd.

Bezugstheologen:

  • Paul Tillich: „Gott als das Sein selbst“ – also als das, worin alle möglichen Welten gründen.
  • Karl Rahner: Transzendentale Theologie als Anthropologie – Gotteserfahrung als Grenze des Sagbaren.
  • Jean-Luc Marion: Gott ohne Sein – radikale Kontingenz göttlicher Präsenz.

Quellen:

  • Tillich, P.: Das religiöse Symbol, in: Gesammelte Werke Bd. 4.
  • Rahner, K.: Grundkurs des Glaubens, 1976.
  • Marion, J.-L.: Die Überwindung der Metaphysik?, 1994.

FAZIT: Mögliche Welten – Mögliches Gottesbewusstsein

Wir sind nicht bloß Bewohner einer gegebenen Welt. Wir sind Konstrukteure von Möglichkeitsräumen. Jede kognitive Geste erzeugt Welt – und verschließt andere. In dieser Dynamik liegt eine theologische Pointe: Gott existiert nicht in der Welt, die wir messen – sondern in jener, die wir (noch) nicht messen können.

Die Frage ist nicht: „Gibt es Gott?“ – sondern: „Welche Welt müsste ich entwerfen, damit Gott darin auftaucht?“



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